Rezension:
Benjamin Derin / Tobias Singelnstein: Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Institution, Berlin 2022; Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2022.
Annäherung an einen problematischen Text
„Inspektion“ ist die Untersuchung eines Gegenstandes durch Sachverständige auf seine Betriebssicherheit. Das Untersuchungsobjekt ist – so viel gleich vorab – durch die Hauptuntersuchung gefallen. Keine geringen oder erheblichen Mängel, sondern verkehrsunsicher; das Erlöschen der Betriebserlaubnis wird denn auch im Kapitel 5 mit dem Titel „Perspektiven“ unter Überschriften wie „Polizei neu denken“ oder „Defund und Abolish“ schon mal andiskutiert.
Zum Glück für den Gegenstand handelt es sich bei den Sachverständigen nicht um solche im wörtlichen Sinne, sondern um zwei Kriminologen, einer mit Lehrstuhl, der andere mit Anwaltskanzlei. Beide wissen kundig zu beschreiben, was ihr Untersuchungsgegenstand für Aufgaben hat und was er darf. Auch über Neuerungen in der Sicherheitsarchitektur wissen sie Bescheid, z.B. über die Vorverlagerung und Ausdehnung des Gefahrbegriffs und die damit seit 9/11 immer wieder verbundenen Aufgabenzuwächse der Polizei. Das alles wird in den beiden ersten Kapiteln des Buches abgehandelt und wäre an sich kein Grund, ein Buch von 391 Seiten Text zu verfassen. Richtig los zu gehen scheint es erst auf S. 143, mit dem Kapitel 3 „Polizeiprobleme“. Und hier liegt der beabsichtigte Mehrwert der Arbeit: 248 Seiten befassen sich anschließend mit dem offensichtlichen Anliegen beider Autoren.
Worum es da geht? Man konnte es ein wenig schon am Titel sehen: „Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt“. Wer mag sich bei 82 Mio. Einwohnern als „Gegner“ der Polizei verstehen? Da gibt es fast 6 Mio. Straftaten, unter Abzug der Mehrfachtäter also weniger als 6 Mio. Täter, zu denen man aber wiederum ein Dunkelfeld nicht angezeigter Straftaten addieren müsste. Aber nicht jeder, der in angetrunkenem Zustand ein Verkehrszeichen über den Haufen fährt und es damit in die PKS schafft, ist deshalb gleich ein Gegner der Polizei. Gegner der Polizei, ganz grundsätzlich, sind die rund 100.000 Verfassungsfeinde von links, von rechts, aus dem Islamismus; hinzu darf man getrost die nicht wenigen Fußballfans der Kategorie C rechnen. Gegner: Extremisten, Straftäter und Gewalttäter. Der insgesamt überschaubare Kreis an Gegnern erschien den Verfassern offenbar wichtig genug, um sie als relevanten Faktor in die Überschrift aufzunehmen. Und hier beginnt für das Buch gleich das Problem mit den Fakten. „Bei aktuellen Umfragen geben rund 80% der Befragten hierzulande an, großes oder sehr großes Vertrauen in die Polizei zu haben“, heißt es gleich eingangs auf S. 11. Dort wird auch die Größenordnung der „Gegner“ angerissen: „Zehntausende“ Teilnehmer von Demos „Black Lives Matter“, und „Hunderte“, die auf Demonstrationen skandieren „Ganz Berlin hasst die Polizei“ (ebenfalls S. 11, kursiv durch Verf.). Angesichts dieser Zahlen ist es schön, eine Umfrage zur Hand zu haben: „80% der Befragten meinen, dass die Polizei ein Problem mit Rassismus hat, fast drei Viertel sehen ein Gewaltproblem“ (S. 13). Die Quelle erfährt der Leser nebenbei auf S. 60, aber auch dort kann man nicht feststellen, zu welcher von drei empirischen Untersuchungen die Daten gehören, Immerhin: Der Befund zu Rassismus und Gewalt wurde im August 2020 erhoben, auf dem Höhepunkt der George-Floyd-Kampagne.
Auch an anderen Stellen ist ein etwas salopper Umgang mit Quellen erkennbar, ohne dass gegen wissenschaftliche Standards direkt verstoßen würde. „Die Polizei“ – sie wird immer als essentialistische Entität behandelt, obwohl es immerhin 18 Landes- und Bundespolizeiorganisationen und innerhalb deren auch noch sehr verschiedene Zuständigkeitsbereiche und Arbeitsweisen gibt. Kann eine solche Verallgemeinerung den Untersuchungsgegenstand überhaupt adäquat abbilden?
Mit zu den Quellenproblemen des Werks gehört ihre Auswahl des verwendeten Materials. Dass recht viele Werke aus der „kritischen“ Kriminologie vertreten sind, ist kaum zu beanstanden, sortieren sich doch die Autoren in diese Forschungsrichtung ein. Ziemlich prominent vertreten sind auch diverse NGO, die sich schon sehr lange, aber gewiss nicht in konstruktiver Absicht, mit der Polizei beschäftigen. Irritierend ist allerdings, dass die Polizei, um die es doch gehen soll, praktisch nicht zu Wort kommt. Schließlich verfügt sie in Gestalt eines Forschungssegments beim BKA und der Deutschen Hochschule der Polizei, auch vergleichbarer kleinerer Einrichtungen bei den Länderpolizeien, über entsprechende Apparate und Personal, das sich ebenfalls den Problemen der Polizeiorganisation und des Polizeialltags widmet.
Aber vielleicht stehen Ausgewogenheit und Neutralität – „herkömmliche“ Tugenden rationaler Wissenschaft – bei Derin und Singelnstein auch gar nicht so sehr im Focus. Beiden kann man nämlich nicht vorwerfen, ihr Erkenntnisinteresse zu verbergen:
“Die derzeitige öffentliche Debatte wird der Komplexität der Organisation Polizei und ihrer gesellschaftlichen Rolle in vielerlei Hinsicht nicht gerecht. Und doch liegt die Antwort nicht einfach irgendwo in der Mitte. Dieses Buch ist kein Appell, ‘beide Seiten zu verstehen’, und nimmt keine vermittelnde Position ein. Ziel ist es, die Polizei in all ihren Widersprüchen zu betrachten. Dabei ergibt sich das Bild einer fundamental ambivalenten Organisation. Und es wird sichtbar, dass die Gesellschaft ihren Auftrag, sich Gedanken darüber zu machen, was für eine Polizei sie eigentlich möchte (zu) lange Zeit vernachlässigt hat.” (S. 15)
Wer „der Gesellschaft“ ihren „Auftrag“ erteilt, sich über die Polizei Gedanken zu machen, darüber wird noch zu sprechen sein. Ebenfalls klärungsbedürftig ist offensichtlich das Wissenschaftsverständnis und das Erkenntnisinteresse der beiden Autoren. Das soll weiter unten in dieser Besprechung geschehen.
Zunächst mal muss aber vorgestellt werden, welches die zentralen Ergebnisse der Untersuchung von Derin und Singelnstein sind.
Zentrale Inhalte und Ergebnisse
Die „Inspektion einer mächtigen Institution“ befasst sich im ersten Kapitel „Polizei in der Gesellschaft“ u.a. mit der Entstehung der modernen Polizei und ihren Aufgaben. Die Polizei als Organisation behandelt das zweite Kapitel, unter Einschluss des bekannten Problems der „Cop Culture“. Kapitel 3 „Polizeiprobleme“ behandelt schwerpunktmäßig „Rassismus“ und Rechtsextremismus. Kapitel 4 „Polizei im Wandel“ beschäftigt sich mit der Ausweitung der Aufgaben und dann wiederum mit der (angeblichen?) Abschottung der Polizei von der Gesellschaft, an der auch ihre Berufsorganisationen mitwirkten. Und schließlich werden (tatsächliche?) Tendenzen beschrieben, sich von der Weisungsbefugnis durch die Politik, der Verbindung zur Gesellschaft und schließlich auch noch von den rechtlichen Einhegungen zu trennen: „Verselbständigung der Polizei“.
Der Leser lernt, die beschriebenen Krisensymptome und die „dunklen Seiten“ der Polizei sind keine Fehler, die sich durch reformorientiertes Handeln, auch nicht bei gutem Willen der Beteiligten, reparieren liessen. Sämtliche Fehler haften der Polizei „strukturell“ an; als hierarchisch strukturierte (damit „demokratiefeindliche“) Organisation, als aufgrund ihrer Neigung, nicht alle Bürger gleich zu behandeln, politisch „rechte“ oder zumindest „rechtsoffene“ Organisation. Erschwerend hinzu kommt, dass die Polizei als Ausübende des staatlichen Gewaltmonopols nicht nur die aktuellen (und nach Meinung der Autoren falschen) gesellschaftlichen Verhältnisse aufrecht erhält und sie sogar in diesem Sinne aktiv mit gestaltet.
Was die zentralen, mehr oder eher weniger gut begründeten Thesen des Buches angeht, machen die Autoren aus ihrem Herzen keine Mördergrube: Bevor Kapitel 5 („Perspektiven“) nämlich darlegt, dass die Lösung des Problems Polizei erst durch ihre Abschaffung erfolgen kann, allerdings in einer qualitativ anderen, nämlich nicht mehr durch soziale Spannungen gezeichneten Gesellschaft, erhält der Leser die analytische Quintessenz zu Beginn des Schlusskapitels noch einmal „pointiert dar(gelegt“) (S. 323). Die wichtigsten Aspekte seien der Authentizität halber deshalb summarisch zitiert:
“Auf der einen Seite leistet die Polizei Hilfe und bearbeitet Gefahren, schützt Menschen, zum Beispiel in bedrohlichen Situationen, und setzt sich für deren Rechte ein. Auf der anderen Seite unterstützt die Polizei nicht alle Menschen in gleichem Maße und bringt grundlegende Probleme mit sich, von denen sie nicht getrennt werden kann, wie Gewalt, Verselbständigung und mangelnde Kontrolle. Indem sie die gesellschaftliche Ordnung bewahrt, reproduziert sie zugleich deren Ungleichheitsverhältnisse und Konflikte. Diese dunklen Seiten der Polizeiarbeit sind in den letzten Jahren stärker in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. (…) Das Nebeneinander der verschiedenen Seiten der Polizei ist weder bloß Ausdruck von praktischen Fehlern, sondern in der Institution und ihrem gesellschaftlichen Auftrag angelegt.“ (S. 323)
“Die Hauptfunktion der Polizei besteht gleichwohl auch heute noch in der Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Ordnung. Sie ist ein Instrument (und ein Produkt) der Macht, also der politischen und sozialen Kräfteverhältnisse. (…) Die Polizei stellt so die gesellschaftliche Sicht auf soziale Probleme her.” (S. 324 f.)
Man beginnt zu verstehen, dass angesichts dieses Befundes im abschließenden Kapitel auch keine begehbaren Auswege vorgeschlagen werden. Die Institution Polizei ist ihrem Wesen nach, also strukturell und systemisch, nicht reformfähig, denn sie übt Gewalt gegen Minderheiten aus, um die bestehenden Herrschaftsverhältnisse im Interesse der Mehrheitsgesellschaft aufrecht zu erhalten:
“…ihre Aufgaben sind aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft formuliert und fordern von ihr letztlich eine besonders intensive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Minderheiten und Marginalisierten. Das hindert die Polizei nicht daran, mit vielen Bürger:innen vertrauensvoll umzugehen, gute Arbeit zu leisten und auch unter Minderheiten hohes Ansehen u genießen. Aber eine Polizei, die für alle gleich ist und niemanden benachteiligt, wäre gemessen an dieser Funktion keine Polizei.” (S. 332; Schreibfehler im Original)
Als besondere Kennzeichen einer im Sinne einer Klassengesellschaft, hier umschrieben als „Aufrechterhalten der bestehenden Ordnung“, agierenden Polizei haben die Autoren bereits im Kapitel 3 unter „Polizeiprobleme“ drei Faktoren herausgestellt:
Erstens geht es um Gewalt, sowohl unrechtmäßige als auch rechtmäßige. Das macht offenbar kaum einen Unterschied, denn „auch rechtmäßig angewendete Gewalt ist traumatisierend“ (S. 148). Die „Gewaltlizenz“ – gemeint ist die Ausübung des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols – sei ein „Alleinstellungsmerkmal der Polizei“, und deshalb seien die „mitunter schockierenden Szenen polizeilicher Gewalt nicht bloß überschießende Momente, sondern Ausdruck ihres Wesens.“ (S. 332 f.).
Beim zweiten Faktor handelt es sich um „Rassismus und Diskriminierung“ (Kap. 3.2), festgemacht an dem tatsächlich problematischen „Racial Profiling“ gegenüber Gruppen von Tatverdächtigen – ein in der Polizei und ihrer Ausbildung sehr wohl erkanntes und stark bearbeitetes Problem. Den beiden Autoren gerät das Problem allerdings zu „institutionellem Rassismus“ (Überschrift S. 178) gegen „Marginalisierte“ und „Andere“ – wie gesehen im Auftrag der Mehrheitsgesellschaft, also wesensmäßig mit dem Mandat der Polizei verbunden.
Letzter Faktor: Die Polizei ist politisch „rechts“ (Kapitel 3.3 „Rechtsextremismus in der Polizei“). Zu Recht werden hier die eindeutig rechtsextremistischen Vorkommnisse in den Landespolizeien Nordrhein-Westfalen und Hessen als Beleg für die These herangezogen. Zudem mag es sogar stimmen, dass hierarchischer Aufbau, Dienstorientierung und die Aufgabe der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung dazu führen, dass viele Polizeibeamte eher politisch konservativ eingestellt sind. Das wäre aber nur ein Problem, wenn man es in substanzieller Form mit Rechtsextremismus in der Polizei zu tun hätte. Und hier halten es die Autoren mit einem erheblichen Teil des eher sehr weit linken Antifa-Spektrums: „rechts“ und „rechtsextremistisch“, auch „extrem rechts“ und „rechtsoffen“ werden beliebig miteinander vermengt, ohne diese Begriffe inhaltlich zu definieren. Das wäre zumindest mit dem verfassungsrechtlich relevanten Begriff „rechtsextremistisch“ ein Muss gewesen Stattdessen mäandrieren die Autoren, um die Größe der Gefahr, die sie offenbar weder quantifizieren können noch qualitativ sauber einordnen wollen, aufzublasen: „“Was zunächst als Ausnahmefall abgetan wird, offenbart sich damit als verfestigte Struktur: Teile der Polizei sind rechtsextrem oder haben eine gefährliche Affinität zur extremen Rechten.“ (S. 199, kursiv v.Verf.). Betrachte man die Befunde in der Gesamtschau, müsse man davon ausgehen, „dass es eine nicht unwesentliche Gruppe von Beamt:innen in der Polizei gibt, die ein geschlossenes, rechtsextremes Weltbild haben. Und dass es eine weitere größere Gruppe gibt, die bestimmte ideologische Fragmente des Rechtsextremismus“ teilen (S. 200; kursiv v. Verf., Schreibfehler im Original). Die Vorfälle in der nordrhein-westfälischen Landespolizei klängen zwar gemessen an den mehr als 50.000 Beschäftigten nicht nach sonderlich viel, es sei „aber eben nur das Hellfeld bekannt gewordener und verfolgter Verdachtsfälle.“ (S. 200 ff.). Und da es mit der Empirie eben hapert, muss eine Vermutung herhalten. Rechtsextreme Strukturen in der Polizei zeichneten sich„gerade durch ihre verdeckte Vorgehensweise aus, die von außen schwer zu erkennen ist“ (S. 202). In der Tat ist das ein Problem, das bei den meisten realen Verschwörungen auftritt – aber eben auch bei allen Verschwörungstheorien.
Die Nachlässigkeit der Autoren bei der Definition von verfassungsrechtlich durchaus relevanten Kategorien führt aber nicht dazu, dass sie mit ihrer eigenen Positionierung hinter dem Berg halten: „rechts“ ist für sie keine zulässige Position. Eine legitime demokratische rechte Einstellung scheint es für sie nicht zu geben. Ihre Wertung dazu ist eindeutig: „Rechts“ hat etwas mit einer „reaktionären Rückwärtsorientierung von Teilen der Bevölkerung“ (S. 204) zu tun. Das mag man so sehen, doch ist dies eher eine politisch engagierte Meinungsäußerung als ein wissenschaftlicher Befund. Zweifellos steht den Autoren eine solche Selbstverortung zu. Der Polizei aus ihrer Sicht übrigens nicht; davon zeugt die eherne Regel, dass Polizei politisch neutral und nur Recht, Gesetz und Verfassung verpflichtet ist. Diese Regel kommt im Buch nur ganz am Rande vor, verschwindet aber hinter der Behauptung, dass Polizei eben die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten habe.
Methodische Schieflagen
Selbstverständlich ist es im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit vollkommen legitim, im Zusammenhang mit der Empirie einer Untersuchung eigene Wertungen anzubringen. Ob diese tragfähig sind, entscheidet sich danach, ob die Analyse wissenschaftlich systematisch erfolgt, für den Leser intersubjektiv nachvollziehbar und kritikoffen angelegt ist.
Und hinsichtlich der wissenschaftlichen Methodik sind an dem Werk von Derin und Singelnstein ganz grundsätzliche Einwände anzubringen. Es handelt sich nicht um vernachlässigbare Details, sondern in der Gesamtschau entscheiden sie darüber, ob man es mit einem wissenschaftlichen oder eher meinungsbildenden Werk zu tun hat. Sind die methodischen Probleme gravierend, hat man es letztlich eher mit Ideologie als mit Wissenschaft zu tun.
Bevor auf diese Ebene eingestiegen wird, hat der Leser der Rezension auch ein Recht zu erfahren, auf welchen wissenschaftstheoretischen Grundlagen die Besprechung beruht. Der Rezensent ist promovierter Politikwissenschaftler und weiß sich dem Kritischen Rationalismus im Sinne Karl Raimund Poppers verpflichtet. Forschungsprozesse sind sowohl systematisch als auch ergebnisoffen anzulegen, sie müssen sich – einschließlich ihrer erkenntnistheoretischen Prämissen – Kritik und Widerlegungen öffnen. Der Forscher sollte zu seinem Gegenstand Abstand halten, sich aber auch bewusst sein, dass vollständige Objektivität des Forschers eher ein Ideal als stete Realität ist.
Einer gewissen eigenen Nähe zur Arbeit der Sicherheitsbehörden ist sich der Rezensent durchaus bewusst: Er beschäftigt sich seit vier Jahrzehnten mit politischem Extremismus, ist seit drei Jahrzehnten in der politischen Bildung tätig, kann auf zwei Jahrzehnte Berufserfahrung in einem Inlandsnachrichtendienst zurücksehen und ist seit zehn Jahren Lehrbeauftragter u.a. an der HSPV Nordrhein- Westfalen. Die Autoren des besprochenen Buches haben dieses Problem einer gewissen Nähe zum Untersuchungsgegenstand eher nicht: Vom polizeilichen Alltag haben sie erkennbar nicht die mindeste Ahnung, ihr Wissen über „Polizei“ ist primär soziologisches, philosophisches und politologisches Buchwissen.
Kritische Kriminologie
Die akademischen Lebensläufe der Autoren und die Inhalte des Buches lassen erkennen, dass sich beide einer Forschungsrichtung zurechnen, die als „kritische Kriminologie“ bekannt ist. Sie ist im Gefolge der 1968er Bewegung entstanden und hat sich durch Berufungen früherer studentischer Aktivisten fest an den Universitäten etablieren können und ein beachtliches Gegengewicht zur traditionellen Kriminologie gebildet. Ihre zentrale These lautet, dass primär soziale Schieflagen und ein Mangel an sozialer Gleichheit in der Gesellschaft Straftaten verursachten. Dazu Derin und Singelnstein: Für sie ist klar, „dass Kriminalität von Lebensumständen und sozialer Lage abhängt, nicht von Hautfarbe oder Herkunft“ (S. 183). Stimmt schon, möchte man sagen, aber eben nicht immer: Die kulturell-religiös geprägte Mordneigung des Jihadisten kann ihm keine noch so perfekte Sozialpolitik austreiben. Die marxistische Grundierung dieser Forschungsrichtung ist mithin als Ergänzung der traditionellen Kriminologie gut geeignet, aber nicht als deren Ersatz. Es sind eben nicht immer „letztlich“ die sozialökonomischen Verhältnisse für gesellschaftliche Konflikte und deliktisches Handeln verantwortlich, manchmal reichen die mentale Disposition oder der freie Entschluss des Täters glatt dafür aus. Die Einbringung der sozialen Dimension hat einen wesentlichen Fortschritt in der Forschung gebracht. Auf der Rückseite gibt es den Nachteil, dass der Täter als Akteur bisweilen völlig aus dem Focus geraten kann: Er ist nur therapiebedürftiges Opfer; „die Gesellschaft“ ist die eigentliche Schuldige. Täter sind mithin nicht zu bestrafen, sondern maximal zu therapieren; und die Lösung besteht in einer Gesellschaft, die keinerlei soziale und ökonomische Unterschiede mehr kennt. Früher nannte man so was „Aufbau des Sozialismus“ und „entwickelte sozialistische Persönlichkeit“ – die Ergebnisse sind bekannt. Dennoch zielen Derin/Singelnstein genau auf eine solche Utopie. Polizei wird überflüssig, wenn ein neues System völliger Gleichheit eingeführt ist, dass ethisch verwerfliches Fehlverhalten nur noch als therapiefähiges Phänomen, nicht aber mehr als Straftat ansieht.
Im Nachgang zu „1968“ haben zahlreiche linksextremistische Gruppen diese Idee nicht als sinnvolle Ergänzung der traditionellen Kriminologie im Sinne des Marxschen Diktums „De omnibus esse dubitandum“, sondern als Vehikel für eine utopiegetriebene Delegitimierung der realen Gesellschaften genutzt. Wer das Kapitel 5 liest, ahnt: Genau dort sind auch Derin/Singelnstein anzusiedeln. Die „strukturellen Probleme der Polizei“ sind nur durch ihre Abschaffung zu beheben, wenn zuvor die Gesellschaft „grundlegend“ umgestaltet wird. An solchen Großexperimenten besteht nach 100 Mio. Todesopfern während des „Aufbaus des Sozialismus“ aus guten Gründen kein weiterer Bedarf. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes gingen zu recht und sehr bewusst davon aus, dass nie wieder der einzelne Mensch und sein Leben zum Instrument wahnhafter Gesellschaftsideen gemacht werden darf.
War das Buch schon abgeschlossen, als in jenen amerikanischen Großstädten, die sich mit „Black Lives Matter“ den Konzepten von „Defund“ und „Abolish“ verschrieben hatten, die Mordraten explodierten? Überflüssig fast zu erwähnen, dass die weitaus meisten Opfer wiederum unter den „sozial Benachteiligten“ anfielen.
„Konstruktivismus“ und „Dekonstruktivismus“: Obskurantismus als angebliche Wissenschaftstheorie
Auf die in den Sozialwissenschaften modisch gewordene angebliche Erkenntnistheorie des „Konstruktivismus“ und ihre praktische Fortentwicklung des „Dekonstruktivismus“ beziehen sich die beiden Autoren an keiner Stelle ausdrücklich. Dennoch ist ihr Buch durchzogen von den axiomatischen Grundannahmen dieser beiden Phänomene. Sie sind als Nischenprodukte randständiger Universitätsseminare ungefähr vor vierzig Jahren entstanden. Nach langer Inkubationszeit sind sie durch eine ganze Generation von Nachwuchswissenschaftlern in der Realwelt angekommen und vergiften in zunehmendem Maße politische und gesellschaftliche Debatten, die wir seit der Neuzeit auf der Grundlage des Rationalismus und der europäischen Aufklärung zu führen pflegen.
Die Grundthese des Konstruktivismus ist, dass die Realität nicht objektivierbar ist, sondern durch die subjektive Sichtweise des Betrachters geformt wird. Eine objektive Erkenntnis gibt es also nicht, vielmehr potenziell unendlich viele Sichtweisen, die alle nebeneinander ihre Berechtigung haben. Fakten und Beweise, welche rationale Wissenschaft fordert, spielen demnach für die Beliebigkeit subjektiver Erkenntniswege keine Rolle: auch Schamanismus, Religion oder Esoterik haben gleichermaßen als Erkenntnismethode ihre Berechtigung.
Ein zentrales Instrument bei der „sozialen Konstruktion“ von Wirklichkeit ist für die Konstruktivisten Sprache. Sie „schafft“ insofern Wirklichkeit, als ihr unterstellt wird, durch bestimmte Erzählungen („Diskurse“, „Narrative“) einer bestimmten Vorstellung von Politik und Gesellschaft zu folgen: „Konstruktivismus“ hat nichts mit konstruktiv zu tun, sondern mit „konstruiert“: Wirklichkeit werde durch Sprache „konstruiert“, und je nach dem welche Diskurse gerade die dominierenden seien,„konstruierten“ sie auch die Realität. Sprache schaffe damit zugleich Machtverhältnisse, lege die herrschende Sicht auf die Wirklichkeit fest und reproduziere sie zugleich durch die ständige Wiederholung der dominierenden Diskurse.
„Sprache“ und „Diskurse“ sind in dieser Sichtweise als „Macht“ konstituierende Elemente von „Herrschaft“ und daher auch Schlüssel zur Veränderung. Hier kommt nun die Weiterentwicklung zum „Dekonstruktivismus“ zum Zuge. Er beruht wiederum auf einigen zu Dogmen verfestigten Grundannahmen, zu denen als wichtigste die Behauptung gehört, dass die westlichen Gesellschaften, ihre Politik und ihre Werte vor allem Machtinstrumente sind, die durch Jahrhunderte dazu gedient haben, eine Ordnung aufrecht zu erhalten, die auf Kolonialismus und Rassismus beruht. Es liegt nahe, diese ungerechten („oppressive“) Diskurse und Wertsysteme durch diejenigen der bisher Unterdrückten („oppressed“) zu ersetzen. Die Funktion dieser „Erkenntnistheorie“ als politische Ideologie und Anleitung zum Handeln ist evident: Man verändert die Diskurse, also die Sprache (durch Gendersprache, die den Ficus auf die „oppressed“ lenkt), unterbindet die Äußerung des „bisher Sagbaren“, bringt die Träger der „falschen“ Diskurse zum Schweigen (Shitstorms, cancel culture und Forderungen nach Berufsverboten), entfernt die Symbole des „oppressiven“ Regimes aus dem öffentlichen Raum (Straßenumbenennungen, Denkmalstürze, Bücherverbrennungen). Zugleich installiert man eine faktische Bevorzugung der bisherigen „oppressed“, der Opfer des Systems. Wer Opfer ist, entscheidet sich nicht nach tatsächlicher Benachteiligung, sondern aus der subjektiven Sicht der Opfer. Fakten und Beweise sind grundsätzlich verzichtbar, da eine Objektivierung von Sachverhalten angeblich nicht möglich ist. Und im Übrigen liegt nahe, dass die Definitionsmacht über die „richtige“ Sichtweise denjenigen zukommt, die aufgrund gründlicher Einsichten in den Konstruktivismus und Dekonstruktivismus mit höherem Wissen ausgestattet sind. Man nennt sie in denUSA „Social Justice Warriors“ oder „Wokes“.
Nun, Derin und Singelnstein sind gewiss keine „Wokes“ – aber die Spuren dieses toxischen Obskurantismus ziehen sich dennoch an vielen Stellen durch ihr Buch. Sie dienen besonders der Feindkonstruktion und haben – da Kategorien wie Recht oder Unrecht, Fakten oder Falschaussagen angeblich rein subjektive Momente sind – den großen Vorteil, dass sie fast beliebig mit doppelten Standards arbeiten können. Wichtig ist nicht die Beweisführung, sondern dass das zuförderst ideologische und dann auch sprachliche „Framing“ der eigenen „Inspektion“ stimmt.
Und das Framing ist hier die Erzählung von den Minderheiten und Marginalisierten, die zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung von deren Instrument, der (systemisch & strukturell) gewaltaffinen, rassistischen und rechten Polizei unterdrückt werden.
Treten Angehörige von Minderheiten beispielsweise als Störer, Täter oder Tatverdächtige in Erscheinung, so werden nach Überzeugung der Autoren von der Polizei nicht in erster Linie die zugrunde liegenden ungleichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse angegangen, „sondern diese Gruppen selbst als Problem konstruiert“ (S. 69, kursiv v. Verf.). Auch die Polizei selbst ist „als gesellschaftliche Institution sozial und politisch gemacht“ (S. 34, kursiv durch Verf.) und kennt daher nur falsche „Narrative“. „Minderheiten und als fremd gelesene Menschen“ (S. 189, kursiv v. Verf.) ständen aufgrund dessen stärker im Focus des polizeilichen Gewalthandelns. Ein Islamist, der die Familienehre mit dem Messer in der Kehle seiner unbotmäßigen Tochter verteidigt, wird also nur „fremd gelesen“, weil er etwas anderen als den gängigen Normen folgt? Für den Konstruktivisten schon: auch die herrschende „Normalität“ ist ja eine soziale und sprachliche Konstruktion, die sich aus eben herrschenden Diskursen ergibt und von der Polizei durchgesetzt wird. Aufgabe der Polizei ist dabei aufgrund ihres Gewaltmonopols, dass sie „zwischen Normalität und Abweichung unterscheidet“ (ebda.)
Deshalb gibt es dann in den Wahrnehmungen und Berichten der Polizei über ganz reale Vorgänge eben massenhaft „falsche“ Narrative:
“Symptomatisch für diese Lage ist die seit einigen Jahren währende Debatte über den (vermeintlich) abnehmenden Respekt gegenüber der Polizei. Diese von den Gewerkschaften beharrlich vorgetragene Erzählung ist mittlerweile auch von Teilen der Politik und den Medien aufgegriffen worden und ist in die tradierten Wissensbestände der Cop Culture eingegangen (…).” (S. 296, Hervorhebung durch Verf.)
Als polizeiliches Handeln im Zusammenhang mit den tagelangen Krawallen während des G 20-Gipfels in Hamburg kritisiert wurde, begegnete die Polizei der Kritik mit „einer wirkmächtigen Gegenerzählung von der Gewalttätigkeit der Protestierenden“ (S. 218, kursiv v. Verf.). Mit realer Gewalt durch Linksextremisten haben die Verfasser offensichtlich ein Problem. Die politische Linke sei „ein tief sitzendes Feindbild der Cop Culture“ (S. 134). Als ob dieses „Feindbild“ sich nicht ständig durch Schrift und Praxis zum realen Feind erklärte. Da war doch mal was; z.B. die „Rote Armee Fraktion“: „Bei ihren Banküberfällen und Entführungen sowie bei Versuchen, RAF-Mitglieder festzunehmen kam es seit 1971 immer wieder zu Schusswechseln, bei denen auch Polizist:innen ums Leben kamen“ (S. 134, kursiv v. Verf., Schreibfehler im Original). Merke: Terroristen sind keine wirklichen Täter, alles das hat sich eher tragisch und wohl zufällig ereignet. Dennoch habe sich diese „einstige Bedrohung in das Bewusstsein der Polizei eingegraben“ (S. 135), als falsches Narrativ wohl, denn heute seien „Ausschreitungen auf linken politischen Demos, sofern es sie überhaupt gibt“ (S. 135, kursiv durch Verf.) doch mit denen der 1980er Jahre kaum zu vergleichen.
Fakten spielen für Konstruktivisten eben eine nachgeordnete Rolle – wo sie nicht gefallen, werden sie ignoriert (wie tatsächliche Kriminalität und/oder Terrorismus) oder eben zu „repressiven Diskursen“ umgeframt. Ist halt alles eine Frage der subjektiven Sichtweise, und wer da auf der richtigen Seite der Barrikade steht, darf auch schon mal mit den Fakten großzügig umgehen.
Vergleichbares ereignet sich mit dem Begriff der „Normalität“. Für Konstruktivisten gibt es ihn eigentlich nicht, da ja alle Ansätze der Weltdeutung erstens subjektiv geprägt und zweitens nur sprachliche Narrative sind, die Machtverhältnisse konstituieren. Und weil die Narrative in den westlichen Demokratien „oppressive“ sind, steht ihnen eigentlich eine Definition von „Norm“ und „Abweichung“ gar nicht zu. Die Polizei allerdings schafft diese Unterscheidung im Einsatz und setzt sie auch durch. Sie agiert dabei als „Vertreterin der privilegierten Mehrheitsgesellschaft, des Normalen und der dominanten Kultur“, sie greift „auf die Einteilung der Gesellschaft in Kategorien wie normal und abweichend, Mehrheit oder Minderheit, ‘wir’ und ‘die Anderen’ zurück. Es überrascht daher nicht, dass Rassismus auch in der Polizei zu finden ist und sich in ihrer Praxis niederschlägt.“ (S. 167). Die Autoren teilen offensichtlich die dekonstruktivistische Annahme, dass (westliche) Gesellschaften strukturell und essentialistisch rassistisch und „oppressive“ sind.
Deshalb haben sie auch ein schwieriges Verhältnis zum Prinzip demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Denn die sind dann immer gegenüber „vulnerablen Gruppen“ „oppressive“. Man kann dies im Text nachvollziehen am implizit pejorativen Gebrauch des Begriffs „Mehrheitsgesellschaft“. Deren Ordnung mit allen Ungerechtigkeiten gewährleiste und reproduziere die Polizei im Auftrag eben jener Mehrheit. Letzten Endes bestimme „die Mehrheitsgesellschaft, wie die zu erhaltene Ordnung aussieht, da vor allem ihre Wertvorstellungen und Interessen in Gesetze gegossen werden und sich so zur Rechtsordnung verfestigen.“ (S. 64). Das ist nach Auffassung der Autoren aber verkehrt: Die Polizei greife bei ihrer täglichen Arbeit auf „ihre Erfahrungen und Alltagsvorstellungen zurück, die wiederum auf den gesellschaftlichen Wertungen und dem sozialen Kontext basieren, so dass sich darin Ungleichheitsverhältnisse und gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln. Eine arabische Jugendclique in einem Problemviertel, politische Aktivist:innen und junge Fußballfans werden im Einsatz vermutlich als bedrohlicher eingestuft als zwei ältere weiße Damen in einem Villenviertel“ (S 65, Schreibfehler im Original). Man merkt, wie hier wiederum das Faktum stört, dass die beschriebenen Problemgruppen tatsächlich im Allgemeinen gefährlicher sind. Für Dekonstruktivisten sind es aber Minderheiten, die statt der (systemisch & strukturell) rassistischen Mehrheitsgesellschaft bestimmen sollten.
Allerdings nicht alle Minderheiten: keine linke Gesellschaftstheorie kommt bei der Konstruktion ihrer Utopie ohne eine gründliche Verwendung doppelter Standards aus. Wer „richtige“ und nicht etwa „toxische“ Minderheit ist, bestimmen jene „Eliten“, die sich als „wokes“ mit höherem Wissen ausgestattet wissen. Der Begriff „woke“ kommt zwar in der Diktion von Derin und Singelnstein nicht vor. Wer seine Entsprechung sucht, wird bei „Zivilgesellschaft“ oder „kritischer Öffentlichkeit“ fündig. Für die Lösung des „Problems Polizei“ (bzw. ihre „Dekonstruktion“, vgl. Kap. 5.3 „Defund und abolish) ist „eine aktive und kritische Zivilgesellschaft“ zuständig. Es müsse „im Selbstverständnis der Polizei verankert sein, dass sie dieser Zivilgesellschaft verbunden und verpflichtet ist“ (S. 348) – und nicht etwa, möchte man ergänzen, der breiten Mehrheit der Bevölkerung oder gar Recht und Gesetz.
Dekonstruktivismus ist eben immer auch eine kulturelle Kriegserklärung an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Zum Schluss: Gewerkschaftsbashing als „kritische Wissenschaft“
Von dezidiert „linken“ Autoren sollte man Verständnis bis Zuspruch für gewerkschaftliches Engagement erwarten dürfen. Allerdings greifen auch hier die „doppelten Standards“: Vertritt eine Gewerkschaft die Interessen einer (strukturell & systemisch) „falschen“ Berufsgruppe, dann gilt dies nicht. Entsprechend heftig fällt das Gewerkschaftsbashing der beiden „kritischen Wissenschaftler“ aus (Kap. 4.2 „Polizei und Politik – und die Rolle der Gewerkschaften“, S. 266 ff.). Sie haben durchaus bemerkt, dass die beiden Hauptakteure auf diesem Feld politisch recht unterschiedlich ausgerichtet sind (S. 274 f.). Dennoch werden GdP und DPolG als „die Polizeigewerkschaften“ homogenisiert und in Gesamthaftung genommen. Trotz hohen Organisationsgrads „bleibt im Alltag oft unklar, für wen die Gewerkschaften wirklich sprechen (können)“ (S. 275). Klar, sie führen nämlich die falschen Diskurse: „Einer wesentlichen Erzählung der gewerkschaftlich vermittelten Weltsicht nach ist der Polizeiberuf eine außerordentlich wichtige, anstrengende und gefährliche Tätigkeit“ (S. 280, kursiv v. Verf.). Schlimmer noch: Sie setzen sich für die Interessen ihrer Mitglieder ein:
“Gleichzeitig setzen sich die Gewerkschaften für spezielle polizeiliche Interessen ein, die nicht unbedingt denen der sonstigen Gesellschaft entsprechen. (…) Schwierigkeiten können außerdem auftreten, weil die Gewerkschaftsarbeit eng mit der Polizist:innenkultur verbunden ist und teilweise Befindlichkeiten und Ressentiments der Cop Culture aufgreift,reproduziert und verstärkt.” (S. 277, Schreibfehler im Original)
Wenn man in diesem Text „sonstige Gesellschaft“ durch „kritische Zivilgesellschaft“ ersetzt, versteht man, was gemeint ist: Statt herkömmlicher Interessenvertretung sollten die Gewerkschaften doch lieber der „dekonstruktivistischen“ Elite bei der Abschaffung des Berufsstands helfen. „Eigeninteressen und eine recht spezifische Sicht auf die Dinge“ sollten eben die Berufsorganisationen nicht vertreten, wenn sie aus der Sicht der „Experten“ eine grundfalsche Berufsgruppe vertreten. Nebenbei: ein schöner Blick einer selbsternannten Elite auf gesellschaftlichen Pluralismus als zentrales Moment der Demokratie.
Ergebnis: Wissenschaftliche Untersuchung oder eher Agitation?
Reicht es aus für eine wissenschaftliche Arbeit, wenn man Quellen sammelt, ansprechend und verständlich formuliert und korrekt zitiert? Wohl nicht: die sonstigen Standards wissenschaftlichen Arbeitens sollten ebenfalls eingehalten werden. Dazu gehört, dass man sich nicht unerklärt an „Erkenntnistheorien“ bedient, die wie Konstruktivismus und Dekonstruktivismus allenfalls Schrottstatus beanspruchen können. Im günstigsten Falle kommt dann eine Meinungsäußerung heraus, die eine bestimmte „Haltung“ signalisiert. Im worst case hat man es mit vorsätzlicher Agitation und Desinformation zu tun.
Da ganze Generationen von sozialwissenschaftlichem Nachwuchs an ihren Universitäten mit dem toxischen Obskurantismus von Konstruktivismus / Dekonstruktivismus konfrontiert waren, fällt es oft schwer, hier auf Vorsatz zu erkennen. Auffällig am Buch von Derin und Singelnstein ist jedoch das feine ideologische und sprachliche Framing, das gleichermaßen zielgenau wie unauffällig auf ein vorab gesetztes Ergebnis zusteuert. Und beim Gegenstand geht es nicht um eine der unzähligen gänzlich bedeutungslosen Gender Studies, sondern um eine für das Funktionieren zivilisierter Gesellschaften unverzichtbare Institution.
Deren absichtsvolle Delegitimierung sollte nicht kritiklos hingenommen werden.
(Diese Rezension wurde am 12. Juni 2023 erstellt)
Dr. Rudolf van Hüllen ist Politikwissenschaftler und Extremismusforscher sowie Lehrbeauftragter an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen. Von 1987 bis 2006 arbeitete er im Bundesamt für Verfassungsschutz.